Was schätze ich an Schätzungen?

Die Kanban-Community ist nicht gerade dafür bekannt, Schätzungen in höchsten Tönen zu loben. Und auch ich bin niemand, der ihnen besonders viel Wert bemisst. Dennoch möchte ich einmal versuchen, den enthaltenen Wert einmal zu beschreiben. Und vielleicht schreibe ich auch noch einen Post dazu, wie wir all die Dinge, die wir an Schätzungen schätzen, auch mit Kanban-Hausmitteln bekommen – günstiger und oftmals besser! 

 

 

Über welche Art von Schätzungen sprechen wir?

In der agilen Welt sind Dinge wie Schätz- oder Planning-Poker weit verbreitet. Es werden Schätzungen in einem abstrakten Schätzmaß abgegeben, meistens werden die sogenannten Storypoints verwendet. Beim Schätzen in abstrakten Schätzmaßen wird der Aufwand auf ein abstraktes Maß – eben die genannten Storypoints – projiziert. Die Schätzungen werden im Normalfall in einem Breitband-Delphi-Verfahren durchgeführt.
Das ist ein recht fancy Ausdruck dafür, dass ein Team gemeinsam und mit Feedback-Schleifen schätzt. Nach der Abgabe einer Schätzung durch jedes Mitglied des Teams wird also über das Ergebnis diskutiert und es schließt sich eine weitere Schätzrunde an. Die Idee dahinter ist, dass das Ergebnis irgendwann zum korrekten Wert konvergiert.

Das abstrakte Schätzmaß wird deswegen verwendet, weil unterschiedliche Bearbeiter unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Bearbeitung erzielen. Die „Menge“ an Arbeit bleibt jedoch gleich. Aus der Menge der Arbeit, die ein Team pro Zeiteinheit bearbeitet, kann dann die sogenannte Velocity abgeleitet werden. Sie ist das Maß für die Geschwindigkeit des Teams und natürlich aufgrund der Schätzungen teamabhängig.

Es wird immer noch gerne vertreten, dass mit Storypoints Komplexität im Sinne von Schwierigkeit der Aufgabe oder Komplexität für den Nutzer geschätzt wird. Das ist Quatsch. Es geht wirklich nur darum, die Schätzung auf ein personenunabhängiges Maß für Aufwand zu bekommen.

 

Intensive Beschäftigung mit den einzelnen Themen (Inhaltliche Durchdringung)

Setzt sich ein ganzes Team für mehrere Stunden zusammen und schätzt einzelne Aufgaben, kommen sie nicht umher, sich inhaltlich und technisch mit den Themen auseinander zu setzen. Sie müssen verstehen, was erzielt werden soll und was dafür zu tun ist, um eine valide Schätzung abgeben zu können. Wenn sie auch noch einen Konsens im Team erreichen sollen, müssen sie sich im Zweifel auch noch miteinander austauschen über Inhalt und Umsetzung. Sie entwickeln also alle ein gemeinsames Verständnis der Anforderungen. Das kann spätestens bei der Umsetzung nutzbringend sein: Eine Lösung ist vielleicht schon in Grundzügen entworfen und kann prompt umgesetzt werden. Aber auch während der Schätzung kann schon ein Wert entstehen. Denn eine intensive Beschäftigung mit den Inhalten nimmt den Anforderer nicht aus. Er oder sie muss für Rückfragen zur Verfügung stehen. Können da einzelne Fragen nicht beantwortet werden, können die benötigten Informationen noch beschafft werden und Klärungen erfolgen.

 

Anhaltspunkte für Schwierigkeit und benötigte Qualifikationen

Natürlich ist es Sinn und Zweck der Schätzungen, eine Aussage zur Größe bzw. des benötigten Aufwands zu bekommen. Die Diskussion im Team wird allerdings auch hervorbringen, wie die Schwierigkeit ggf. unterschiedlich eingeschätzt wird. Es sollte klar werden, welche Qualifikationen für das Unterfangen notwendig sind und ob diese Fähigkeiten auch ausreichend breit gestreut sind.

 

Genauigkeit und Aufwand können angepasst werden.

Manchmal benötigen wir nicht ganz exakte Informationen, um eine Entscheidung zu treffen. Wenn wir irgendwohin reisen, ist ein grober Indikator für Reisezeit und Kosten unterschiedlicher Verkehrsmittel vielleicht schon ausreichend, um eine gute Entscheidung zu treffen. Ähnlich können wir das bei Schätzungen von Anforderungen handhaben: Wir überlegen vorher, welche Entscheidung wir anhand der ermittelten Schätzung treffen wollen und passen dann entsprechend unsere Schätzgenauigkeit an. Das geht natürlich einher mit dem Aufwand, den wir für diese Schätzung treiben. So ist es richtig, für genaue Schätzungen das gesamte Team zu involvieren. Für eine erste Abschätzung ist das "Three Amigos" Konzept vielleicht völlig ausreichend.

Abteilungen, die mit Kanban-Systemen arbeiten, neigen dazu, sich unter anderem Durchlaufzeitverteilungen anzusehen. Darin findet man manchmal Cluster unterschiedlich großen Anforderungen. Eine Abschätzung, in welche Größen-Klasse eine Anforderung fällt, kann dann eine Aussage zur Durchlaufzeit erzeugen. Diese Aussage könnten wir dann wiederum in eine Entscheidung einfließen lassen, die Anforderungen zu zerteilen oder nicht. Das ist eine ziemlich kostengünstige Schätzung, die nicht besonders genau sein muss und auch nicht durch eine gemeinsame Schätzung belegt werden muss.

 

Liefern einen Indikator dafür, was wir abrechnen können

Rechnen Sie vielleicht nach geleisteten Stunden ab? Dann kann es durchaus sein, dass ihre Kunden zumindest eine Hausnummer haben möchten, wie viel es denn am Ende kosten wird. Das muss man nicht gleich in enge Budget- und Vertragsdiskussionen abdriften lassen. Aber wenn Sie Ihr Auto beim KFZ-Mechaniker haben, ist es schön zu wissen, ob Sie sich auf €50 oder €250 Kosten einrichten müssen. 

 

In Festpreisprojekten können sie in Vertrags- bzw. Austauschverhandlungen hilfreich sein

Apropos Vertragsdiskussionen: Das Konzept des Festpreises wird uns wohl weiter begleiten, insbesondere mit festgelegtem Umfang. In den meisten Fällen fällt dem Auftraggeber aber irgendwann auf, dass das, was er bestellt hat, nicht ganz das ist, was er benötigt. Ist dem Auftragnehmer an einer langfristigen Kundenbeziehung gelegen, lässt er zumindest einen Tausch von Anforderungen zu. Dabei werden Anforderungen, die sich im initial vereinbarten Umfang befinden, durch gleich große, neue Anforderungen ersetzt. Das geht natürlich nur, wenn beide Anforderungen ausreichend genau geschätzt sind – beziehungsweise so genau, dass die Entscheidung für beide mit gutem Gewissen getroffen werden kann.

 

Hier haben die Schätzungen den Wert, dass sie dem Auftraggeber ein gewisses Maß an Agilität zugestehen und den Auftragnehmer dabei nicht zum Leidenden machen.

 

FAzit

Schätzungen haben einen Wert, einen Nutzen. Diesen Nutzen sollten wir versuchen, mit angemessenen Kosten zu erreichen. Denn eine Investition in eine nicht benötigte Genauigkeit ist keine Investition, sondern Verschwendung.

 

Viele Teile des Nutzens lassen sich auch anders erreichen – ohne die leidigen Diskussionen, die beispielsweise Planning-Poker immer wieder erzeugt. Für diejenigen, für die der Nutzen trotz dieser Nachteile groß genug ist, sind die Schätzungen ein angemessenes Mittel.



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